Was soll das?

“Wie geht’s dir?”

Wie oft werdet ihr das ehrlich gemeint gefragt? Ich eher selten, glaube ich. 

Und sind wir alle mal ehrlich: wie oft hören wir bei der Antwort wirklich zu? Ich für meinen Teil habe das „aktive Zuhören“ sehr verlernt. Ich rede viel über mich. Teile dann meine Erfahrungen zu einem Thema, um zu zeigen, dass ich es in gewissem und persönlichem Maße nachvollziehen kann und (scheinbar) verstehe, wie es der Person geht. Aber ich frage ganz oft gar nicht. Ich glaube es zu wissen. Als hätte ich in der Schule nicht aufgepasst, als es in den Grundlagen um Gesprächsführung und in Psychologie um aktives Zuhören ging. Wie konnte das denn passieren?

Ich glaube, zu wissen, wie es mir geht. 

Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, in ein tolles Haus gezogen, eine traumhafte Arbeitsstelle und dort auch noch eine Arbeitskollegin, die so schnell in mein Herz gesprungen ist, dass ich das nicht mal gemerkt habe. Wenn ich jetzt von ihr spreche, dann ist sie eine sehr gute Freundin, die auch meine Arbeitskollegin ist. Nicht umgekehrt. Meine Chefin ist so menschlich, dass mein Hirn das gar nicht verarbeiten kann und in Defensive geht, weil es den Fehler im System sucht. Den gibt es nicht.

Frei einteilbare 30h pro Woche, ein Partner mit Verständnis und Geduld, ein Sohn mit so viel Interesse, Energie und Verständnis.

Also, was soll das dann?

Warum werde ich dann wach und fange an zu weinen? Warum setze ich mich an den Frühstückstisch, Misjö hat Brötchen geholt und Kaffee gekocht, und ich fange an zu weinen? Warum starre ich ins Leere und komme zu Terminen zu spät? Wieso sehen meine Haare schon wieder so schlimm aus und wieso bekomme ich’s nicht gebacken, mir Klamotten rauszusuchen, die zum Wetter und auch zusammen passen? Wieso mecker’ ich am Sohn nur rum? Warum bin ich denn so frustriert, unzufrieden und erschöpft? Wovon denn? Ich schaff’s ja nicht mal regelmäßig meine Zähne zu putzen! 

Was soll das? 

„Ich habe doch keinen Grund mich zu beschweren“, höre ich meine innere Stimme sagen. „Du hast doch so viel, wovon andere nur träumen“, fährt sie fort. „Jetzt hab’ dich nicht so, reiß’ dich mal zusammen und kümmer’ dich um deine Pflichten. Guck, dort steht schon wieder was rum, deine Bastelsachen sind im Wohnzimmer verteilt und der „Stapel der Schande“ neben deinem Bett mit Klamotten wird auch nicht von selber kleiner! Fang halt einfach mal an! Was ist denn da so schwer dran?!“

Ich weiß es nicht. 

Ich sehe das alles. Ich höre auch den Katzenbrunnen, der schon wieder viel zu laut brummt und saubergemacht werden müsste. Ich sehe auch den Notizzettel mit den Terminen, die noch gemacht werden müssen und mit den Namen der Leute, die ich noch per Mail kontaktieren wollte. Die Hälfte der Pflanzen stirbt und möge man bitte über meine fettigen Haare hinwegsehen. Für Mütze ist es leider zu warm mittlerweile.

Mir geht es nicht gut. Mir geht’s beschissen.

Vermutlich schon lange. Und ich hab’s ignoriert. Und niemand hat’s gemerkt. Ich bin wieder und wieder über meine Schatten gesprungen und habe Grenzen hinter mir gelassen, ohne sie beachtet oder bemerkt zu haben. Im ersten Moment was das ein fantastisches Gefühl. Ich habe mein Leben auf die Reihe bekommen! Ich war mindestens 25h pro Woche auf Arbeit, habe zu Hause noch Sachen gemacht und geglaubt, dass ich ja dann auch die 30h schaffen kann. Schließlich war ich eh selten weniger in der Praxis. Und es lief ja wirklich prima!

Was soll schon passieren?

Unpünktlichkeit, körperliche Erschöpfung, Probleme bei Koordinierung und Priorisierung von Alltagshandlungen, kurzfristiges Absagen/Verschieben von Terminen, Hautprobleme, unregelmäßiges Essverhalten, immer wieder Konflikte zu Hause, mehr freiwillige Überstunden in der Praxis, weiterhin hilfsbereite Übernahme von Patienten als Kranken/Urlaubsvertretung, aber zu Hause wurde nichts erledigt. Blieb alles an ihm hängen. 

Schlechtes Gewissen…

„Du kannst doch nichts dafür, dass es dir wegen deiner gezerrten Kapsel im Daumen nicht gut geht! Hab’ kein schlechtes Gewissen und nutz’ dir Zeit für dich, so gut es geht!“ 

Ha ha….

Natürlich nickt man. Natürlich freut man sich über das entgegengebrachte Verständnis der Person gegenüber. Natürlich ist man dankbar. Natürlich weiß man das alles auch, was sie da sagt. Also, theoretisch. Natürlich kann ich nichts dafür, wenn ich nach 3 Wochen AU wegen Arbeitsunfall und gezerrter Kapsel im Daumengrundgelenk in einer schweren depressiven Episode festsitze und noch eine Woche K-Schein einreiche und danach 2 Wochen Urlaub habe und nicht weiß, ob ich danach wieder arbeitsfähig bin. 

Ich kann nichts dafür.

Mein Unterbewusstsein spielt aber ein anderes Lied. Es singt mir vor, wie ich übertreibe und nur weine um meinen Willen zu bekommen. Dass ich doch einfach zugeben soll, dass ich eben einfach keine Lust mehr hab’. Dass es doch gar nicht so schlimm ist. Und selbst wenn es wirklich so schlimm ist jetzt, wäre ich ja doch selber dran schuld, weil ich die Frühwarnzeichen der Erschöpfung nicht für voll genommen habe oder sogar zu blöd bin, meine eigenen Frühwarnzeichen zu erkennen. Auf jeden Fall kann ich was dafür. Ich hätte mich ja anders verhalten können. Wie damals. Als mein „bockiges und stures Verhalten“ einem anderen Menschen das Leben gekostet hat. Weil ich sicherlich nicht mal versucht habe, dessen Sichtweise zu verstehen und nie richtig zugehört habe. Weil ich mich ja sowieso immer nur um mich kümmere. Nach außen hin hui, im Inneren pfui. 

Ich versteh’s nicht.

Ich verstehe nicht, warum ich immer noch so denke. Warum ich niemandem außer mir selbst so nachtragend die Schuld an allem gebe. Warum ich immer noch glaube, dass ich alles falsch mache, falsch bin. Schließlich habe ich doch eine meiner Ausbildungen mit 1,3 abgeschlossen, während die Wohnung blitzeblank aufgeräumt war. „Also kannst du es schon, du willst bestimmt einfach nur nicht. Weil du faul bist.“

Ich versteh’s einfach nicht.

Und sitze im Auto und weine. Sehe die Straße kaum. Atme tief ein, Blick aufs Navi – 9min. Nur noch 9 Minuten Lia. Dann kannst du weinen und alles aus dir rauskotzen, was los ist. Was auch immer das ist. Vielleicht weiß sie es ja. Sie ist eine tolle Ärztin. Hört zu. Sie kann bestimmt helfen.

Zu spät.

Nicht nur drei oder vier Minuten. Nein. Fast eine halbe Stunde. „Ich weiß“, antworte ich der Frau an der Anmeldung. Und fange an mit weinen. Wo ich hier sonst immer gefestigt und lächelnd stehe. Lächle. Jetzt kann ich nur noch weinen. Habe Angst. Vor so vielem. Ich weiß nicht, warum. Ich versteh’s nicht. Zu spät gemerkt, was los ist. Hab ein schlechtes Gewissen. Aber ich kann nichts dafür. „Ich weiß“, sagt sie. „Alles zu viel“, sagen wir. Gleichzeitig. Sie lächelt. Mitfühlend. Ich weine. Vielfühlend. 

Danke.

„Hab mich heute mit deinen Statusen mal nicht alleine gefühlt. […] Ich wünsch dir, dass du genauso gesehen wirst, wie du andere siehst. Ich sehe dich aufjedenfall.“ Danke, antworte ich darauf. Ich teile all das. Ich teile mich. Mit jedem Gedanken, der bei anderen Wurzeln schlägt und halt gibt. „Du machst das übelst toll, Lia!“, sagt die, die gern Alice hieße. „’n scheiß mach ich…“, sag ich. Später antworte ich auf die gleiche Aussage der selben Person „Ich weiß…, glaub’ ich…“ 

Danke.

Was auch immer das soll. Ich bin nicht alleine. Und du auch nicht. Eine meiner Hausaufgaben meiner Psychiaterin, nachdem sie mir die schwere depressive Episode diagnostiziert und Antidepressiva verschrieben hat, war: „Sie dürfen sich Hilfe einfordern! Bitte tun Sie das auch!“

Ich habe das vermutlich „übelst toll gemacht.“ Ich habe meiner Ärztin eine Mail geschrieben. Ich habe gemerkt, dass ich Hilfe brauche. Ich habe begriffen, dass Misjö allein mir nicht helfen kann. Vielleicht will er, aber er kann nicht. Und das ist ok. Ich bin zum Termin gefahren. Mit fettigen Haaren und 26min zu spät. Aber ich bin hingefahren. Habe mich geöffnet und im Warteraum nicht zusammengerissen, sondern einfach geweint.

Jetzt wälze ich mich in meiner Asche, manchmal wirkt sie vielleicht so viel, als könnte ich ersticken an all den Fragmenten meiner selbst. Aber Asche schmeckt gar nicht so schlimm, nicht mal, wenn man sich selbst in den Mund ascht (frag nicht). Es ist weder weich noch bequem. Aber wieso sollte ein Phönix sonst wieder aufstehen, wenn es bequem wäre in der Asche?

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