Eines Tages fand ich einen Schmetterling. Es war schon fast Winter, der erste Schnee war zwar wieder getaut, doch es blieb ziemlich kalt. Er saß auf dem Boden an unserer Hauswand auf kleinen Kiessteinen. Würde ich ihn dort lassen, würde er garantiert erfrieren.
„Warum nimmst du einen toten Schmetterling mit ins Haus?“, fragte mein Freund, „Willst’ ihn auf einen Nagel spicken und an die Wand hängen? Lass ihn lieber gleich draußen.“ Ich wusste, dass er das nicht so meint. Er ist selbst sehr tierlieb und würde auch einer Fliege aus einer Pfütze retten.
„Der ist gar nicht tot! Der lebt noch“, gab ich zurück. Woher ich das nun in diesem Moment wusste, weiß ich bis heute nicht.
Ich brachte den Schmetterling ins einzige warme Zimmer des Hauses, ins Wohnzimmer. Mein Freund ist nochmal losgefahren, den Sohn aus der Kita holen. Als ich den Schmetterling auf’s Fensterbrett setzen wollte, merkte ich, dass er sich an meinen Fingern fest hielt. Genoss er meine Körperwärme? Ich lies ihn also da sitzen. Setzte mich auf’s Fensterbrett und sah abwechselnd zu ihm und nach draußen. Das Wetter traf absolut nicht meinen Geschmack; es war grau, nass, kalt und windig. Die Blumen im Garten waren verblüht. Nur ein paar wenige Ringelblumen hielten den Temperaturen stand. Vielleicht waren sie aber auch schon erfroren.
Wie ich so darüber nachdachte, hörte ich ein Rascheln. Es hatte eine Frequenz, die ich vorher so noch nicht gehört hatte. Es klang recht hell, fein und doch irgendwie durchdringend. Ich hielt meinen kleinen Freund (oder Freundin?) an mein Ohr um den unwahrscheinlichen Fall auszuschließen, dass es von ihm kommt. Ich wurde eines besseren belehrt. Ming raschelt mit den Flügeln! Ich lauschte dem Geräusch noch eine weile, überlegte währenddessen, warum Schmetterlinge das wohl taten und kam zu dem Schluss, dass ihm vermutlich immer noch kalt war an den Flügeln. Ich setzte Ming nun vorsichtig auf das Fensterbrett, versicherte mich, dass keine Katze im Wohnzimmer war, ging in die Küche nebenan und machte mir einen Tee. Während das Wasser kochte, rührte ich einen Cocktail aus Honig, Wasser und Apfelsaft auf einem flachen Teller für Ming an.

MIT TEE UND TELLER IN DER HAND KAM ICH AUS DEM STAUNEN NICHT HERAUS, ALS ICH WIEDER INS WOHNZIMMER KAM. DIE VORHER SO UNSCHEINBARE GESTALT BLICKTE MIR NUN MIT GROSSEN, FARBENFROHEN AUGEN ENTGEGEN. MING ENTPUPPTE SICH ALS PFAUENAUGE UND STRAHLENDER FARBENPRACHT. ICH STELLTE DEN TELLER AB, SETZTE IHN AN DEN RAND DAVON, DOCH TRINKEN WOLLTE ER NICHTS.
Ich trank meinen Tee, schaute Ming zu, wie er auf mir herumkrabbelte und seine Flügel streckte. Ich dachte über die Veränderungen meines Lebens nach, die ich schon durchwandert hatte und fragte mich, ob ich wohl immer noch Raupe oder schon Schmetterling war. Ich dachte an die vielen Momente in denen ich dachte, Schmetterling zu sein und dann wieder abstürzte und vor mich hin kroch wie eine Raupe, mich dann wieder einigelte und zurück zog wie in einen Kokon. Aber…
Schmetterlinge ziehen sich jedes Jahr zurück im Winter. Manche fliegen in den Süden in riesigen Scharen und mache versteckten sich in Scheunen oder Garagen zum überwintern. Sie verhalten sich regungslos und sparen ihre Energie. Sie fliegen nicht, sie gleiten nicht in all der Freiheit durch die Lüfte, die krabbeln an einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen. Sie warten, sie essen nicht, sie trinken nicht. Manche Schmetterlinge leben nur wenige Jahre und müssen diese Winterprozedur nur zwei mal durchstehen.
Ob sie das wissen?
Ob sie sich sagen „Nur noch einen Winter, dann hab ich‘s geschafft“?
Oder ob sie im zweiten Winter versuchen länger durchzuhalten um noch etwas von ihrem Leben zu haben?
Ob sie um ihre kurze Lebensspanne wissen?
Ob sie Angst vorm Sterben haben?
Ein Flattern riss mich aus den Gedanken. Ming hatte versucht zu fliegen! In diesem Fall war es besser ihn in einen sicheren Raum zu schaffen, bis er er wieder sicher kann.
Er saß fast wie selbstverständlich auf meiner Hand während ich ihn ins Bad brachte. Ich machte den Deckel vom Klo runter, den einer der Jungs hier wohl mal wieder offen hat stehen lassen. Oder war ich es gar selbst gewesen? Naja. Ich verschloss auf jeden Fall jeden Abfluss und Schrank sicher, dass mein kleiner neuer Freund auch nicht feststecken bleibt oder gar in die tiefen der Kanalisationen fällt. Seinen Teller habe ich natürlich auch mitgenommen und ihm wieder aufs Fensterbrett gestellt. Aber getrunken hat er noch nichts.
Obwohl er gesund und munter wirkt und ich ganz genau weiß, dass Schmetterling prima fliegen können, hatte ich also das Bedürfnis, ihm einen sicheren Raum zu geben, ihn ein wenig einzuschränken. Na sowas.
Ich lies ihn eine Weile alleine.
In einer koreanischen Serie hatte ich gesehen, dass der Schmetterling die Psyche des Menschen darstellt bzw. die Welt der Seele. Er stellt verschiedene Lebenzyklen dar. Man sagt, dass wenn einem ein Schmetterling begegnet, man bereit sei, etwas loszulassen, was einen schon lange belastet und gefesselt hat. Es hat dich zurückgehalten und jetzt wird es zeit zu fliegen! Doch erfahrungsgemäß landet man nur im nächsten Sturm, wenn man einfach so losstürzt. Aber ängstlich so halb Rückwärts kommt man eben auch nicht voran…
Nachdem ich ein paar Sachen erledigt hatte, ging ich wieder ins Bad um nach Ming zu sehen. Er flatterte wie wild gegen die Scheibe. Die Sonne schien ganz wundervoll draußen. So ganz geheuer war es mir nicht, aber ich wollte ihn auch nicht gegen seinen Willen festhalten, obwohl ich wusste, dass es draußen viel zu kalt für ihn war.
Ich nahm ihn auf meine Hand, ging mit ihm zu der Seite auf der das Fenster auf ging und öffnete es einen Spalt weit. Ein kalter wind kam uns entgegen und Ming war sich wohl auch nicht so sicher, ob er da wirklich raus wollte. Ich machte das Fenster also wieder zu und lies ihn auf die alte Cordjacke meines Schwiegervaters krabbeln, welches auf einem Kleiderständer am Fenster stand.
Der Kleiderständer stand eigentlich nur da, weil der Platz, an den er sollte, immer noch nicht frei war. So viel ist liegengeblieben, was ich längst erledigt haben wollte… Und es betraf eigentlich jeden Bereich meines Lebens. Die Wohnung/das Haus war weit entfernt von gemütlich, ordentlich und/oder fertig. Ich hatte zwei Ausbildungen am Laufen, beide im ersten Lehrjahr und für beide hatte ich noch zu tun. Meine Familie brauchte auch mal ein paar team-bildenende Maßnahmen. Und doch saß ich jetzt einfach hier in unserem Bad uns sah mir diesen Schmetterling an.
Mit Hilfe meiner Kamera vom Handy zoomte ich ran und konnte jedes kleine Härchen sehen, die bunten Schuppen auf den Flügeln und die vielen Facetten der Augen. So klassisch schön sind eigentlich nur die Flügel, fiel mir auf. Das Gesicht und der haarige Körper wirkten irgendwie gruselig.
Auch Veränderungen sind nicht immer positiv. Gerade wenn zu schnell zu viel passiert, kann es schnell dazu führen, dass man sich klein und unbedeutend fühlt. Auch das hatte ich schon erleben dürfen. Es kann auch sein, dass man zu schnell zu viel erreichen will. Wenn das nicht klappt ist man ebenfalls frustriert.
Alles brauch seine Zeit. Doch warum wollte der Schmetterling nichts trinken? Er muss halb verhungert gewesen sein, als ich ihn gefunden habe. Und das viele herumflattern und Rascheln muss doch auch Energie verbraucht haben. War es das falsche Essen? Zu wenig Zucker? Mochte er keinen Apfelsaft? Hätte ich den Bio-Honig nehmen sollen?
Ich hörte meinen Freund und meinen Sohn nach Hause kommen und freute mich darauf, ihnen „unsere“ Fortschritte zu zeigen.
„Kann ich ihn mal auf die Hand nehmen?“, fragte mein Sohn.
„Wenn er zu dir kommt kannst du ihn dir anschauen, aber nicht an die Flügel fassen, ja?“, gab ich zurück.
Kai war ganz fasziniert von diesem Tier. Er fragte mich schließlich, wie alt er denn sei. Tja… Wie alt werden Pfauenaugen eigentlich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Wir gingen ins Wohnzimmer, nachdem ich den kleinen Knilch dazu gebracht hatte, seine Schuhe und seine Jacke auszuziehen und ordentlich wegzuräumen. Jacke und Schal wurden in die vorgesehene Ecke gepfeffert und ich dachte einfach nicht weiter darüber nach. Wir versicherten uns gemeinsam, dass die Tür vom Bad ganz zu war.
Wir saßen zu dritt auf dem Sofa und recherchierten alle zusammen auf meinem iPad (keine bezahlte Werbung) nach den verschiedensten Schmetterlingen. Welche Arten es gab, Was Motten eigentlich waren, warum es welche Farben gab und welche es schon fast nicht mehr gab. Auf mehreren Seiten stand geschrieben, dass meine Gute Tat gar nicht so gut war wie gedacht, aber ein wenig besser als Schlimm.
Vor lauter Aufregung rannte der kleine ins Bad auf Toilette. Vermutlich nur so halb, weil er wirklich pullern musste.
In der zwischenzeit suchten mein Freund und ich einen kleinen Karton ohne viel dran und drin, um Ming in seine verdiente Winterruhe zu schicken. Auf dem Weg ins Bad kam der Sohn uns immer noch aufgeregt entgegen und fragte, was Schmetterlinge für lange Fühler in der Mitte vom Gesicht hatten, und wie sie die denn einrollen konnten.
Die Verwandschaft zum Elefanten war zu unserem Glück nicht ganz so Naheliegent, weswegen dann keine Debatte begann, warum die Dickhäuter ihren Rüssel denn nicht einrollten. Und dann verstand ich erst, was mein kleiner Prinz mir da eben erzählt hatte. Ming hatte endlich etwas getrunken!
Nun fiel es mir schwer ihn in diesen tristen Karton zu setzen und ihn bis März da drin zu lassen. Ob auch Schmetterlinge Platzangst hatten? Hach.
Ich setzte ihn also in den Karton und sah ihn noch lange an. Ich schloss einen von vier Deckeln und seufzte lauter als gedacht.
„So viel Empathie, wie du für diesen Schmetterling hast, haben andere nicht mal für ihre Mitmenschen“, meinte mein Freund.
Ich nickte, wischte mir die Tränen von der Wange und schloss die anderen 3 Pappdeckel.
Ming wohnt jetzt erstmal bis März in einem Karton im Schuppen. ich habe dort sogar ein Termometer hin gehängt um zu prüfen, ob es warm genug drin ist, denn wenn es unter 0°C ging muss ich Ming wieder vorsichtig umquartieren, damit er nicht erfriert.
Ich freue mich jetzt noch viel mehr auf den Frühling und bin sehr Dankbar für alles, was ich von ihm gelernt habe.
PS: Der Grund, warum mein Freund nicht wollte, dass ich ihn mitnahm, war, dass er mir die Trauer ersparen wollte, falls der Schmetterling wirklich einfach gestorben wäre. Er wusste, dass es mir nah gehen würde, hatte kurze Zeit vorher auch versucht einen Schmetterling aufzupäppeln und das leider ohne Erfolg. Er wollte nicht, dass ich so traurig werde, wie er in diesem Moment war.

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